Kritiker halten ADHS für eine Modekrankheit, die zu oft diagnostiziert wird. Doch Psychiater verweisen auf ähnliche Quoten in anderen Ländern. Fest steht, kein ernsthafter Mediziner zweifelt an der Existenz der seelischen Erkrankung.
Die Aufregung ist mal wieder groß, so wie immer, wenn es um psychische Störungen und deren Behandlung mit Medikamenten geht. Ein Report der Krankenkasse Barmer GEK will festgestellt haben, dass die deutschen Ärzte im Begriff sind, aus den Kindern von heute eine "Generation ADHS" zu machen.
Einige der Befunde klingen auf den ersten Blick tatsächlich dramatisch. So sei die Zahl der Diagnosen von ADHS bei Kindern und Jugendlichen bis zum Alter von 19 Jahren seit 2006 um 42 Prozent gestiegen, unter den Zehnjährigen sei nunmehr jeder achte Junge von der Störung betroffen, die sich durch große Defizite bei der Aufmerksamkeit, durch Hyperaktivität und Impulsivität auszeichnet und ausgeschrieben Aufmerksamkeits-Defizit/Hyperaktivitäts-Syndrom heißt. Besonders schlimm sei es in Würzburg: "Welthauptstadt der ADHS-Fälle", sagt Studienleiter Friedrich Schwartz vom Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung in Hannover. In dieser Region sei im Jahr 2011 bei 18,8 Prozent der Jungen und 8,8 Prozent der Mädchen ADHS festgestellt worden, doppelt soviel wie im Bundesdurchschnitt. In Mecklenburg-Vorpommern hingegen trete die Krankheit mit einer weit unter dem Durchschnitt liegenden Häufigkeit auf.
Warum Würzburg?
Spätestens hier ist der Hinweis fällig, dass es sich bei der Krankenkassen-Studie um eine zwar interessante Bestandsaufnahme handelt, die weitere Nachforschungen anstoßen sollte. Aber es ist keine nach den Regeln der Wissenschaft in einer Fachzeitschrift publizierte Studie, die vor der Drucklegung wie in der Forschung üblich von Fachkollegen begutachtet wurde.
Die hätten nämlich viele kritische Fragen gestellt. Zum Beispiel: Ist es nicht plausibel, dass angesichts der verstärkten Aufmerksamkeit für ADHS in den letzten Jahren Hausärzte verhaltensauffällige Kinder häufiger mit der Verdachtsdiagnose ADHS zum Facharzt schicken? Irgendetwas muss er auf seinen Abrechnungszettel schreiben. Stimmt also der Verdacht, dass solche Erstdiagnosen in die Statistik eingehen, selbst dann, wenn Kinder- und Jugendpsychiater sie letztlich nicht bestätigen?
Würzburg ist als Zentrum der Kinder- und Jugendpsychiatrie bekannt. Muss man nun vermuten, dass übereifrige Fachärzte jedes Kind mit dem ADHS-Etikett versehen, so sie es in die Finger kriegen? Oder könnte es sein, dass das dortige große Ärzte-Aufgebot Eltern mit besonders schwierigen Kindern aus weiter entfernten Teilen Deutschlands anzieht? Umgekehrt in Mecklenburg-Vorpommern: Hier klagen die Gesundheitspolitiker schon lange, dass das Land psychiatrisch unterversorgt sei und viele Hilfesuchende vergebens nach einem Arzt suchen. Das alles sind langweilige methodische Fragen, sie sind aber extrem wichtig für eine saubere Statistik.
Wurde vielleicht nur eine diagnostische Lücke geschlossen?
Doch selbst wenn man diese Zweifel beiseite lässt und die Kernaussage des Barmer GEK-Reports betrachtet, werden Fachleute die Aufregung nicht so ganz teilen können. Die von der Kasse beauftragten Forscher haben nämlich lediglich festgestellt, dass im Durchschnitt die Zahl der ADHS-Diagnosen im Kindes- und Jugendalter von 2,92 auf 4,14 Prozent gestiegen sei. Dieser Wert aber liegt noch unter den fünf Prozent Betroffenen, die in der Fachliteratur seit Jahren genannt werden.
So haben Experten des Robert-Koch-Instituts 2007 im Bundesgesundheitsblatt Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) publiziert. Demnach ergab eine repräsentative Erhebung unter knapp 15.000 Jungen und Mädchen, dass Ärzte bei 4,8 Prozent von ihnen ADHS diagnostiziert hatten, weitere 4,9 Prozent galten als Verdachtsfälle. Andere internationale Studien kamen im Durchschnitt auf Raten von 9,2 Prozent für Jungen und 2,9 Prozent für Mädchen, und liegen somit im selben Rahmen.
Mit anderen Worten: Gemessen am Stand der publizierten medizinischen Wissenschaft ließen sich die Daten des Barmer GEK-Reports auch so interpretieren: Gut, dass Ärzte in den vergangenen Jahren eine diagnostische Lücke geschlossen haben.
Diese frohe Botschaft stimmt allerdings nur, wenn etwa die vom Robert-Koch-Institut erfassten Diagnosen alle korrekt waren. Wer aber könnte ausschließen, dass Ärzte - etwa auf Druck der entnervten Eltern oder auch aufgrund eigener Inkompetenz vielen Kindern fälschlicherweise ADHS bescheinigen? In jeder Stadt sind Ärzte bekannt, wo das Ritalin-Rezept leichter zu bekommen ist als anderswo.
Leider ist diese Möglichkeit bislang nur in wenigen Studien überprüft worden. Viel Beachtung fand etwa eine Arbeit, die der Gesundheitsökonom Todd Elder von der Michigan State University 2010 im Journal of Health Economics publizierte. Er verglich Kinder, die im Monat vor einem Stichtag zur Aufnahme in die Vorschule geboren wurden, mit solchen, die erst im Folgemonat Geburtstag feierten. Die große Studie - sie schloss knapp 19.000 Kinder aus 1000 Einrichtungen ein - ergab, dass in der älteren Kohorte 8,4 Prozent ADHS-Fälle diagnostiziert wurden. Unter den jüngeren Kindern, die bei der Einschulung fast ein Jahr älter waren, betrug die ADHS-Rate nur 5,1 Prozent. Elder sieht seine Ergebnisse als Beleg dafür, dass hier eine rein entwicklungsbedingte Unreife jüngerer Kinder pathologisiert wurde.
Ebenfalls für eine Überdiagnose von ADHS spricht eine Studie, die Silvia Schneider und Jürgen Margraf von der Universität Bochum und Katrin Bruchmüller von der Universität Basel im vergangenen Jahr vorstellten. Sie verschickten vier unterschiedliche Fallgeschichten über Kinder an 1000 deutsche Kinder- und Jugendpsychotherapeuten sowie -psychiater und baten um eine Diagnose, 473 der Experten antworteten.
Ritalin wird in Deutschland eher zurückhaltend verschrieben
Gemäß der geltenden Kriterien wäre nur in einem der Fälle anhand der Symptome und Umstände ADHS zu diagnostizieren gewesen. Doch jeder sechste Therapeut entdeckte ADHS unter den drei nicht-pathologischen Fallbeschreibungen. In sieben Prozent der Fälle wurde die Störung allerdings auch übersehen. Besonders auffallend: Bei Jungen wurde ADHS signifikant häufiger diagnostiziert. Die Autoren sind überzeugt, dass ihre Ergebnisse die "Hypothese einer Überdiagnostizierung von ADHS" bestätigen. Als Grund vermuten sie, dass viele Therapeuten eher intuitiv, nach inneren Heuristiken urteilen statt streng nach Katalog.
Doch auch gegen diese Studie wurden Einwände erhoben. Schließlich diagnostiziert ein guter Kinderpsychiater nicht einfach anhand einer geschilderten Fallgeschichte wie in der obigen Simulation. Vielmehr spricht er ausführlich mit dem Kind und den Eltern, holt vielleicht die Ansichten von Lehrern ein, schaut sich Schulzeugnisse an, macht womöglich computergestützte Tests, um die Konzentrationsfähigkeit zu messen. Das kann Stunden dauern.
Genetisch fundierte Störung
Die gesamte Diskussion über mögliche Überdiagnostik ändert indes nichts daran, dass so gut wie kein ernsthafter Mediziner an der Existenz von ADHS zweifelt. Es handelt sich um eine stark genetisch fundierte Störung, die in vielen Fällen - etwa der Hälfte - auch medikamentös behandelt werden muss. Abgesehen davon bestätigt auch der neue Barmer GEK-Report, dass nach langen Jahren des Anstiegs seit 2010 die Zahl der verordneten Tagesdosen Ritalin zurückgeht. Deutschland ist im übrigen ein Land, in dem - etwa im Vergleich zu Frankreich oder den USA - Psychopharmaka relativ zurückhaltend verschrieben werden.
Es bleibt dieses ungute Gefühl, wieso ein relevanter Teil der Kinder und Jugendlichen psychisch gestört sein soll - kann das denn sein? Sind ADHS-Kinder womöglich ganz natürlich und die moderne Umwelt ist das Problem? Das führt zu schwer zu beantwortenden philosophischen Fragen, etwa jener, wie man Krankheit überhaupt definiert. Und natürlich stimmt es, dass Kinder in einer vormodernen Gesellschaft, wo sie nicht stundenlang auf Schulbänken sitzen müssen, womöglich leichter mit ADHS zurechtkamen.
Andererseits: Warum wird immer nur die Existenz seelischer Beschwerden in Zweifel gezogen, während man es als selbstverständlich hinnimmt, dass der Körper von Kindern immer mal wieder krank sein darf und auch schon früh chronische Defizite entwickelt? Was ist eigentlich mit diesen zahlreichen fehlsichtigen Kindern, die sich Brillen auf die Nase setzen müssen, um diese blöden Buchstaben an der Tafel lesen zu können?
Mehr zum Thema ADHS erfahren Sie in unserem Ratgeber.
Author: Jonathan Cooper
Last Updated: 1703564402
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